#4 Steffen Schorn, Composer in Residence

Shownotes

«Es ist ein absolut natürlicher, organischer Prozess. Es ist nicht so, dass ich jetzt eine Partitur vor mir sehe und einen Stift und der Stift und die Partitur sind zwischen mir und der Musik, sondern ich fühle eigentlich die Band um mich herum. Also ich weiss sofort jede Stimme, wer da sitzt an der Stimme, ich weiss, wie der einzelne Sound ist, wie sich das im Gesamten mischt. Ich kann natürlich auch den Solisten Sachen auf den Leib schreiben, aber es ist einfach eine sehr organische Vorgehensweise.»

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00:00:28: Hallo Steffen, wir sprechen heute über Deine recht neue Rolle als Composer in Residence des ZJO. Willkommen in

00:00:36: Zürich erst mal. Hallo. Danke. Schön, hier zu sein.

00:00:39: Du bist ja eben noch gar nicht so lange Composer in Residence, hast das Orchester ziemlich lang geleitet vorher.

00:00:45: Wie fühlt sich das denn jezt für dich an, wenn der Ed das Orchester dirigiert und eben nicht mehr du?

00:00:51: Also, erst mal muss ich sagen, das Orchester ist bei Ed in besten Händen. Ich kenne Ed seit meiner Studienzeit, wir haben quasi sogar übereinander gewohnt,

00:01:00: haben also den Innenhof der Neusserstrasse 26 in Köln mit tiefen Bassposaunen und Baritontönen

00:01:06: sozusagen schon dual beschallt. Insofern fühlt sich das für mich sehr natürlich an.

00:01:11: Natürlich vermisse ich schon die regelmässigen Konzerte mit der Band,

00:01:15: Die Proben, auch das fantastische Publikum in Zürich, das ist klar.

00:01:19: Andererseits tut es auch gut, weil ich habe wirklich jetzt 30 Jahre

00:01:22: lang immer Vollgas gegeben, sehr wenig Zeit gehabt für

00:01:27: Freizeit oder für meine Familie oder auch mal einen Reset-Button zu drücken, und jetzt in

00:01:31: letzten zwei Jahren war das für mich eigentlich ein sehr guter und heilsamer Prozess,

00:01:35: weil ich auch einmal wirklich in den Tiefen meines Unterbewusstseins kramen konnte.

00:01:41: Ich habe auch selbst an den Instrumenten übetechnisch ein paar grundlegende Bewegungsmuster

00:01:47: wirklich von vorn auf gelernt und habe ein bisschen ein langsameres Tempo gefahren.

00:01:51: Was sich für mich super anfühlt und mir auch die Möglichkeit gibt, nicht immer auf eine Deadline abliefern zu müssen.

00:01:59: Was natürlich auch unglaublich kreativ ist und einen auch anspornt, aber für mich war

00:02:03: jetzt eigentlich die Zeit sehr fruchtbar, mal zurückzutreten und einfach einmal durchzuatmen.

00:02:10: Also eigentlich ein bisschen Luxus, die freie Zeit - oder die Zeit, die da frei geworden ist.

00:02:14: Gibt es denn auch die Momente der Langeweile? Nein, Langeweile gibt es bei mir nicht.

00:02:19: Kenne ich nicht. Also, ich beschäftige mich eigentlich die ganze Zeit

00:02:25: mit Musik, ich meditiere viel, ich versuche, meinen Körper wahrzunehmen,

00:02:30: fitzuhalten. Wahrzunehmen heisst, im Hier und Jetzt zu sein, bei allem, was ich tue.

00:02:35: Und das ist, wenn man immer im täglichen Business ist, nicht immer leicht, weil man immer tausend Sachen im Kopf hat, die man noch machen muss

00:02:42: und immer drei Schritte voraus ist. Im Moment merke ich, bin ich mehr bei mir, bin ich mehr geschlossen und das fühlt sich super an.

00:02:49: Wenn du jetzt komponierst, dann komponierst du, also gerade wenn du jetzt für das ZJO komponierst, komponierst du für eine Band, die du in- und auswenig kennst.

00:02:57: Kannst du schildern, was die Vorteile dieser Kenntnis sind für deine Kompositionen?

00:03:03: Es ist ein absolut natürlicher, organischer Prozess. Es ist nicht so, dass ich jetzt eine Partitur vor mir sehe und einen Stift und der Stift und die Partitur sind zwischen mir

00:03:13: und der Musik, sondern ich fühle eigentlich die Band um mich herum. Also ich weiss sofort jede Stimme, wer da sitzt

00:03:19: an der Stimme, ich weiss, wie der einzelne Sound ist, wie sich das im Gesamten mischt. Ich kann natürlich auch den

00:03:26: Solisten Sachen auf den Leib schreiben, aber es ist einfach eine sehr organische Vorgehensweise.

00:03:34: Deine Stücke vermitteln ja für mich extrem viel Atmosphäre. Wie packst du die Atmosphäre in die Partitur, wie muss man sich den Prozess vorstellen?

00:03:45: Das ist eine gute Frage. Also, Atmosphäre hat ja zu tun mit Flair, mit einem Gefühl,

00:03:53: mit einer gewissen Stimmung. So etwas auf ein abstraktes Medium wie eine Partitur und Stimmen

00:04:02: zu transformieren, das ist wie ein Codierungsprozess. Ich habe eine Information, die ich codiere,

00:04:11: die dann wieder entcodiert wird. Auf eine gewisse Art ist das eigentlich ein Mysterium.

00:04:16: So, wie eigentlich Klang an sich ein Mysterium ist. Also, wenn ich jetzt historische Aufnahmen höre von Charlie Parker, Stan Getz

00:04:24: oder auch von Pablo Casals am Cello - wirklich alte Aufnahmen, die rauschen, die von Schelllack-Platten, auf Kasetten

00:04:31: und dann wieder digitalisiert und eigentlich wirklich abgeschnitten worden sind, wenn ich die anhöre,

00:04:36: merke ich trotzdem, ich höre oder ich fühle das Flair einer ganzen Epoche. Ich frage mich immer, wo ist diese Information gespeichert.

00:04:45: Das ist ja ein totales Mysterium und beim Komponieren beschäftigt man sich mit diesem Mysterium.

00:04:51: Wie kann ich Stimmungen in musikalische Symbole übersetzten und da gehört natürlich dazu,

00:04:59: die üblichen drei Parameter: Melodie, Harmonie, Rhythmus. Klar. Also natürlich die Melodie transportiert in erster Linie

00:05:09: erst mal oberflächlich die Gefühle, die Harmonie zieht einen in die Tiefe, der Rhythmus entfaltet eine zyklische Kraft.

00:05:16: Hermeto Pascoal hat einmal gesagt: Die Harmonie ist die Mutter, der Rhythmus ist der Vater, die Melodie ist das Kind.

00:05:24: Das finde ich eine ganz schöne Metapher. Natürlich gibt es auch eine klangliche Ebene, die für mich ganz wichtig ist.

00:05:29: Also wie entfaltet sich Klang, denn Klang hat für mich sehr feinstoffliche Qualitäten.

00:05:39: Klang hat für mich einerseits eine Konsistenz. Klang kann trocken, hölzern, kann wie ein Block sein, kann flüssig, nebelförmig sein.

00:05:49: Er kann wie eine klare Wasseroberfläche eines spiegelglatten Sees sein.

00:05:55: Das gleiche gilt für Rhythmus. Klang kann natürlich auch eine Form haben. Es kann wolkig sein,

00:06:00: es kann wie ein Strahl sein, ein Beat kann wie ein Baum sein

00:06:04: oder wie eine Trommel oder wie ein Brunnen.

00:06:08: Das sind natürlich alles abstrakte Konzepte, die ich aber in meinem Inneren

00:06:13: visualisiere. Das versuche ich natürlich mit meiner Klangsprache in Töne

00:06:18: umzusetzen. Da kann ich viel darüber erzählen, was für harmonische, rhythmische oder auch melodische

00:06:24: Systeme ich verwende. Das ist letzten Endes das Handwerk,

00:06:29: das man benutzt, um das umzuformen, was natürlich vom Ensemble wieder zum Leben

00:06:34: entfaltet werden muss.

00:06:38: Du hast vorhin geschildert, wie du alte oder historische Aufnahmen anhörst. Wenn du dir jetzt vorstellst,

00:06:44: dass jemand in 100 Jahren TO MY BELOVED ONES, eure letzte gemeinsame CD, aus irgend einem verstaubten Regal kramt,

00:06:53: welche Beschreibung würdest du dir wünschen für diese CD? Wie sollte die Atmosphäre dieser CD beschrieben werden?

00:07:00: Also, vorausgesetzt es gibt dann noch technische Mittel, um eine CD abzuspielen - das lassen wir mal aussen vor.

00:07:08: In erster Linie sollte es herzöffnend sein, es sollte eine Reise zu sich selbst nach innen sein, es sollten

00:07:15: Räume aufgehen, es soll Freude gefühlt werden, es sollen auch dramatische Reibungspunkte

00:07:22: durchlebt und vielleicht zu einer eigenen Lösung gefunden werden, die jeder sich selber vorstellen kann.

00:07:30: Das wäre so mein Wunsch.

00:07:32: Sehr schön. Wir hoffen ganz fest, dass das klappt. Herzlichen Dank, Steffen. Ich danke.

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